Vor langer Zeit gab es eine reiche Familie, die in einer riesigen Villa in der Großstadt lebte. Schon die Großeltern und Urgroßeltern waren in eben dieser Villa geboren worden und die Familie fühlte sich viele Jahre sehr wohl. In der Stadt herrschte immer geschäftiges Treiben, immer war irgendwo irgendetwas los. Einzig der jüngsten Tochter der Familie Soltwedel – Rebecca – war es zu ungemütlich, voll und schmutzig in dieser Umgebung. Sie wünschte sich ein idyllisches Leben fernab der Großstadt, doch ihre Geschwister, Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, ihre Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen konnten ihren Wunsch lange nicht nachvollziehen. Auch von Rebeccas andauernden Überzeugungsversuchen ließen sie sich nicht beeindrucken. Erst viele Monate später, als durch Brandstiftung das Familienunternehmen vollkommen zerstört wurde, ließen sich die restlichen Familienmitglieder breitschlagen, aufs Land zu ziehen. Was sollten sie noch in einer Stadt, in der ihre Existenzgrundlage zerstört war und sie alles an das Ereignis erinnerte? So brauchte es nicht mehr viel Aufwand von Seiten der jungen Frau, die gesamte Familie Soltwedel zu überreden, sich eine neue Existenz abseits der Großstadt aufzubauen, auch wenn vor allem die älteren Herren und Damen weiterhin skeptisch blieben. Sie waren schließlich in der Stadt aufgewachsen und kannten nichts anderes.
Die Organisation des Umzuges übernahm Rebecca. Sie suchte eine geeignete Gegend, um sich das gewünschte neue Leben aufbauen zu können und fand diese zu ihrem Glück auch schnell. Ein winziges, fast menschenleeres Dörfchen hatte es ihr angetan. Früher hatten hier noch einige Bergarbeiter mit ihren Familien gelebt, doch nachdem die nahegelegene Mine aufgrund der hohen Einsturzgefahr geschlossen werden musste, waren sie gezwungen, den Ort zu verlassen.
Als Rebecca auf das ausgestorbene Dorf stieß, waren nahezu alle Gebäude verfallen und nicht mehr geeignet, darin zu leben, doch sie war dennoch begeistert. Hier fand sie Ruhe, Natur und frische Luft – alles Dinge, die sie in der Großstadt nicht genießen konnte. Ihre Familie, die eigentlich wenigstens in ein gut funktionierendes Dorf ziehen wollte, zeigte sich zuerst erneut nicht begeistert, doch nachdem Rebecca ihnen den Ort gezeigt und noch einige Überzeugungsarbeit geleistet hatte, erklärten sie sich schließlich doch bereit, das alte Dorf wieder aufzubauen und mit neuem Leben zu füllen.
So kam es, dass sie sich dort zunächst ein kleines Haus erbauen ließen. Bevor sie einzogen, sorgten sie dafür, dass es ihnen an nichts fehlte. Zu diesem Zweck nahmen sie einige Angestellte mit, die regelmäßig in die Stadt einkaufen fuhren und vorerst mit im Haus der Familie Soltwedel lebten. Dennoch war allen klar, dass dies keine dauerhafte Lösung sein konnte. Es musste Geschäfte und weitere Einwohner geben, wenn sie längerfristig hier zu leben gedachten. Nach ihrem Umzug ließ die Familie deshalb zuerst die alten, verfallenen Hütten wieder herrichten. Dieses Unterfangen nahm einige Monate in Anspruch, doch dann war es endlich soweit und das Dorf erstrahlte in neuem Glanz – wenigstens von außen betrachtet wirkte es nun schon um einiges einladender. Die Angestellten, die die Familie begleitet hatten, zogen nun in ihre eigenen Häuser und holten ihre Familien aus der Stadt nach. Unter diesen neuen Bewohnern fanden sich auch einige, die einen Beruf hatten und diesen in dem Dorf – das nach einer Abstimmung aller bisher ansässigen Leute den Namen Colona erhielt – weiter auszuführen wollten. Wieder übernahm Rebecca die Organisation und sorgte dafür, dass ihnen genau das möglich wurde. So kam es, dass ein kleiner Supermarkt eröffnet wurde, der Waren aus der Stadt einkaufte und die Siedler mit den nötigsten Gütern versorgte. Das Leben abseits der großen Zivilisation war beschwerlich und entbehrungsreich, doch die Menschen hatten sich bewusst dafür entschieden und waren mehrheitlich eigentlich ganz zufrieden mit der Situation.
Wenig später stellte sich heraus, dass der umliegende Boden sehr fruchtbar und zur Feldarbeit geeignet war. Daraufhin entschlossen sich einige der jüngeren Bewohner, sich in der Landwirtschaft zu versuchen und begannen, ein paar kleine Stücke Land zu bewirtschaften. Natürlich waren diese Personen jung und unerfahren, doch sie lernten schnell dazu und dehnten ihre Felder immer weiter aus, bis sich schließlich sogar ein paar sehr kleine Farmen daraus entwickelten. Zwar reichten deren Erzeugnisse noch lange nicht aus, um das Dorf versorgen und unabhängig von der Stadt machen zu können, doch es war immerhin ein Anfang.
Rebecca steckte noch immer all ihre Energie in den Wiederaufbau ihrer neuen Heimat, ließ Kontakte spielen und wandte sich sogar an die Zeitung, um weitere potenzielle neue Bürger anzulocken. Für ihre Mühen wurde sie schließlich zur Bürgermeisterin ernannt. Entgegen aller Erwartungen gab es tatsächlich Menschen, die sich für das Projekt des Wiederaufbaus interessierten und das Dorf daher besuchten. Einige von ihnen entschieden sich daraufhin, ebenfalls dorthin zu ziehen und so zum Wachstum der Gemeinde beizutragen. Auch sie führten ihre Berufe nun überwiegend in Colona aus, sodass die Vielfalt der Dienstleistungen und produzierten Güter langsam anstieg. Sogar ein Arzt siedelte sich an und eröffnete eine kleine Praxis.
Der Großteil der zugezogenen Leute waren jedoch Bauern mit ihren Familien. Sie hatten von dem fruchtbaren Land der Gegend gehört und hofften, es für ihre Arbeit nutzen zu können. Zu dieser Zeit war es nicht leicht, freies Land zu ergattern, sodass die unbewirtschafteten Flächen eine große Anziehungskraft auf sie auswirkten. Rebecca und die anderen Dorfbewohner nahmen sie freudig in ihrer Mitte auf und teilten jeder der Bauernfamilien ein Stück Land zu, auf dem sie leben und arbeiten durften, wie und solange sie wollten. Einige von ihnen spezialisierten sich auf den Anbau aller möglichen Feldfrüchte, andere hielten sich mit Tiererzeugnissen wie Milch, Eiern und Wolle über Wasser.
So vergingen viele Jahre, in denen die Bewohner Colonas hart arbeiteten und dem Dorf langsam aber sicher eine Form gaben. Natürlich konnten die Fortschritte nicht über Nacht erzielt werden, doch mit viel Ausdauer ging es dennoch immer weiter voran.
Die Familie Soltwedel sicherte sich ebenfalls ein gutes Stück Land mit einer frischen, unberührten Wiese. Sie begann mit der Zucht von Pferden. Zuerst warf dieser Wirtschaftszweig nicht viel ab, doch die Familie gab trotzdem nicht auf. Sie suchte sorgfältig die Hengste aus, die ihre Stuten decken sollten, versorgten ihre Tiere gewissenhaft und verbesserten ihre Mittel stets weiter, bis sie Jahre später für eines ihrer Pferde einen sehr hohen Preis erzielten. Das war der Durchbruch. Endlich konnte die Familie sogar von der Pferdezucht leben und wurde für ihre preisgekrönten Rennpferde bekannt, was noch mehr Schaulustige und neue Bewohner nach Colona zog. Rebecca erlebte nicht mehr, wie das Dorf langsam zu einer kleinen Stadt wurde, doch ihre Kinder führten ihr Lebenswerk fort und heuerten einige Bergleute an, die sich endlich um die alte Mine, die in den vergangenen 73 Jahren bislang weitgehend ignoriert worden war, kümmern sollten. Diese brauchten viel Zeit und riskierten bei ihrer Arbeit oft sogar ihre eigene Sicherheit, doch schließlich war es endlich so weit! Die Mine konnte wieder gefahrlos betreten und wie in der Zeit bevor die Familie Soltwedel das Land neu entdeckt hatte für den Bergbau genutzt werden. Nach einigen weiteren Monaten zog ein Schmied in die kleine Stadt und eröffnete eine Schmiede direkt neben der Mine. Er verkaufte den Farmern unter anderem neue Werkzeuge oder besserte ihre alten aus. Im Norden der Stadt eröffnete eine Taverne.Der Marktplatz wuchs auf eine beachtliche Größe an und aufgrund der vielen Farmer gab es dort jeden Dienstag und Samstag alle Arten von Obst, Gemüse und Tierprodukten zu kaufen.
Es hatte viele Jahrzehnte in Anspruch genommen, doch endlich war Colona so weit, sich selbst versorgen zu können. Es war kein kleines, unbedeutendes Dorf mehr, sondern hatte sich in der Gegend etabliert. Noch heute, sechs Generationen nach dem Umzug der Familie Soltwedel, denken die Menschen stolz daran, was ihre Vorfahren geleistet haben und sehen Rebecca Soltwedel nach wie vor als Gründerin der Stadt Colona an.
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